Ein Wohnort, ein Name, ein Opfer
Künstler Gunter Demnig verlegt in Mühlacker seine Stolpersteine
Der Künstler Gunter Demnig hat in Mühlacker auf dem Weg vor der Villa Emrich die ersten Stolpersteine verlegt. Sie sollen die Erinnerung an die Opfer des Naziterrors wach halten.
Von Maik Disselhoff (Mühlacker Tagblatt vom 28. Mai 2009)
Stolpersteine für Mühlacker:
Zahlreiche interessierte Zaungäste, Oberbürgermeister Arno Schüttlerle (im Vordergrund v. li.), Stadtarchivarin Marlies Lippik und Christiane Bastian-Engelbert vom Historisch-Archäologischen Verein sind dabei, als Gunter Demnig zur Erinnerung an die Opfer der NS-Diktatur die ersten Steine vor der Villa Emrich im Schulerweg 1 einsetzt.
Mühlacker. Wer stolpert, muss für einen kurzen Moment innehalten, bevor er seinen Weg fortsetzen kann – und genau dies sollen auch die kleinen Steinquader mit der goldglänzenden Messingplatte bewirken, die der Kölner Gunter Demnig gestern Nachmittag vor der Villa Emrich in Mühlacker in den Boden eingesetzt hat.
Über 15000 Stolpersteine hat der Konzeptkünstler mittlerweile europaweit verlegt. Auf den Messingplatten, die jeweils am letzten Wohnort der Opfer das Andenken bewahren, sind die Namen jener Einwohner der Stadt eingraviert, die durch die Nationalsozialisten ermordet wurden.
„Die Stolpersteine sollen uns dazu mahnen, dass unsere Gesellschaft wachsam bleiben muss, dass menschenverachtende Gewalt und Intoleranz nie wieder einen Nährboden in Deutschland finden mögen“, sagte der Mühlacker Oberbürgermeister Arno Schütterle zum Auftakt der Aktion im Schulerweg 1, wo einst der jüdische Bijouterie- und Kettenfabrikant Alfred Emrich mit seiner Frau Laura und seiner Tochter Marianne zuhause war. Die Familie fand in Auschwitz den Tod. Künftig werden drei Steine vor dem Eingang zum heutigen Kindergarten an das Schicksal der Mitbürger von einst erinnern.
„Die Stolpersteine holen die Opfer genau an der Stelle aus der Anonymität heraus, wo sie damals gelebt haben“, betonte Schütterle. Unter den zahlreichen Zaungästen, die mitverfolgten, wie Demnig die ersten Steine einsetzte, war auch Elisabeth Brändle-Zeile. Für die Heimatforscherin ein besonderer Moment: „Ich bin sehr glücklich darüber, dass das jetzt hier über die Bühne geht.“ Gerade die Steine vor der Villa bedeuteten ihr viel, habe sie doch die Familie Emrich noch persönlich gekannt. Schütterle dankte Brändle-Zeile: „Ihre Arbeit zu den Opfern der NS-Herrschaft war der Anstoß für viele nachfolgende Aktionen“ – worauf die Schar der Teilnehmer spontan applaudierte.
Dank gebühre auch dem Historisch-Archäologischen Verein für seine Initiative und dem Stadtarchiv, so der OB. Im Anschluss zog Demnig mit Maurerkelle, Eimern und Bindematerial weiter in die Schillerstraße 11 und die Steigstraße 9. Dort wurden gestern für weitere elf NS-Opfer Stolpersteine in Form eines Kreuzes verlegt. Das Projekt soll fortgesetzt werden. „Dafür sind wir auf Zeitzeugen angewiesen, die sich beim Stadtarchiv melden können“, sagte der Oberbürgermeister.
Dass die Stolpersteine auch zu Denkanstößen führen werden, davon ist die Leiterin des Mühlacker Stadtarchivs, Marlies Lippik, überzeugt. „Mit Büchern erreichen wir nur die Menschen, die sich ohnehin für die Geschichte interessieren. Mit den Steinen werden im öffentlichen Raum ganz andere Schichten angesprochen.“
Christiane Bastian-Engelbert vom Historisch-Archäologischen Verein sagte zu den ersten Gedenksteinen der Stadt: „Das ist schon etwas Besonderes. Es gibt in der Umgebung Mühlackers nur wenige Städte, wo solche Steine verlegt wurden.“ Für Gunter Demnig hatte Schütterle ein passendes Geschenk mitgebracht: Den zweiten Band zur Stadtgeschichte Mühlackers, in dem Brändle-Zeile die Geschichte einiger Opfer der Naziherrschaft nachzeichnet.
(Quelle: www.muehlacker-tagblatt.de, 19.04.2010)
Hintergrund
Stolpersteine erinnern an die Opfer des NS-Regimes
Der Künstler und seine Aktion
Seit dem Jahr 2000 hat der Kölner Künstler Gunter Demnig in fast 450 Städten und Gemeinden in Deutschland, Österreich, Ungarn und den Niederlanden Gedenktafeln aus Messing im Trottoir verlegt. Diese „Stolpersteine“ erinnern am jeweils letzten Wohnort an die Opfer der NS-Zeit. „Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist“, sagt der gebürtige Berliner Demnig. Für 95 Euro kann jeder eine Patenschaft für die Herstellung und Verlegung eines Stolpersteins übernehmen (www.stolpersteine.com).
Die Opfer in Mühlacker
Laut Stadtarchivarin Marlies Lippik haben in der Zeit des Dritten Reiches etwa 20 bis 25 Einwohner Mühlackers als Opfer des Naziterrors ihr Leben verloren; Juden, Kommunisten und Wehrdienstverweigerer. Häufig war auch das Leben ihrer Familien zerstört. Schwer nachzuvollziehen sei außerdem das Schicksal der Sinti und Roma, die möglicherweise von Mühlacker aus deportiert worden seien, und der Menschen, die als Euthanasieopfer den Tod fanden. Die Einzelschicksale, an die mit der Aktion Stolpersteine erinnert wird, stehen damit auch stellvertretend für alle Opfer der Nationalsozialisten.
Die Familie Alfred Emrich
Der jüdische Bijouterie- und Kettenfabrikant Alfred Emrich, Jahrgang 1876, seine Frau Laura und die 1915 geborene Tochter Marianne sind die bekanntesten Opfer der Naziherrschaft in Mühlacker. Der Unternehmer, der den Bau des Uhlandbaus 1921 maßgeblich gefördert hatte, wurde im November 1938 enteignet und 1939 mit seiner Familie unter Hausarrest gestellt. Im August 1939 emigrierten die Emrichs nach Frankreich, wurden aber 1942 in Le Mans verhaftet und nach Auschwitz deportiert.
Theodor Slepoj
Der 1889 nahe Kiew geborene Fabrikant von Anstecknadeln wurde Anfang 1943 angeblich wegen Spionage verhaftet. Niemand vermutete, dass er Jude sein könnte, sonst hätte er nach 1938 kein Geschäft mehr führen dürfen. Slepoj wurde am 17. Juni 1943 nach Auschwitz deportiert.
Ernst Berties
Der Gießereiarbeiter, geboren 1896, geriet als aktives Mitglied der Kommmunistischen Partei Deutschlands (KPD) ins Visier des Naziterrors und wurde im März 1933 erstmals verhaftet. 1939 kam er ins KZ Buchenwald und wurde 1941 nach Dachau verlegt. Dort starb er unter ungeklärten Umständen, eventuell an Flecktyphus, am 18. Februar 1945. Sein Bruder Richard, ebenfalls KPD-Mitglied und Nazi-Gegner, war bereits 1933 an den Folgen seiner Misshandlungen in „Schutzhaft“ gestorben.
Die Familie Theodor Hettler
Der selbstständige Uhrmachermeister, geboren 1900, wurde als KPD-Mitglied im März 1933 „abgeholt“ und erst nach drei Jahren Haft im Frühjahr 1936 vom Vorwurf des Hochverrats freigesprochen. In wirtschaftliche Not geraten, nahm sich zunächst die Frau Hilde mit den Kindern Louis, Anneliese und Margarete das Leben; Theodor Hettler folgte ihnen mit seinem gemeinsamen Selbstmord mit dem ältesten Sohn Fritz am 29. April 1943.
(Quelle: Elisabeth Brändle-Zeile, Opfer der NS-Herrschaft. Beiträge zur Geschichte der Stadt Mühlacker, Band2; www.muehlacker-tagblatt.de vom 19.04.2010)